Cargo Cult

Im zweiten Weltkrieg benutzten die amerikanischen Streitkräfte die Inseln der Melanesier als Stützpunkt. Sie bauten einen Turm am Rande einer grossen Ebene. Jemand kletterte auf diesen Turm und hörte zu, wie eine Holzkiste eigenartige Geräusche von sich gab, worauf er Beschwörungen in eine muschelartige Vorrichtung sprach.

Kurze Zeit später landete ein riesiger, lärmender Vogel auf der Ebene neben dem Turm und liess Holzkisten liegen. Diese Kisten enthielten verschiedenste Gegenstände, unter anderem auch essbare. Man gab den Melanesiern von den Nahrungsmitteln, welche zwar ungewohnt schmeckten, aber dennoch sättigten und die Strapazen des Jagens, Fischens und Sammels unnötig machten. Es musste sich um Manna halten: Brot vom Himmel.

Nach dem Ende des Krieges zogen sich die amerikanischen Streitkräfte von den Inseln zurück und bauten ihre Vorrichtigungen ab. Es landeten keine riesigen Vögel mehr auf den Inseln, und auch keine Kisten mit Lebensmitteln mehr. Doch nach jahrelanger Versorgung mit Manna wollten die Melanesier nicht mehr jagen, fischen oder sammeln.

So baute man sich eigene Türme aus Holz und Stroh, kletterte selber herauf, um auf Geräusche aus Holzkisten zu lauschen und selber Beschwörungen in Muscheln zu sprechen. Doch wollten keine riesigen Vögel landen. Nun baute man sich Modelle der riesigen Vögel aus Holz und Stroh, um die echten Riesenvögel anzulocken, doch sie kamen nicht. Schnell vergass man gänzlich um das Jagen, Fischen und Sammeln und widmete sich nur noch dem Cargo Cult. Doch es landeten keine reich gefüllten Holzkisten mehr auf den melanesischen Inseln.

Das Jagen, Fischen und Sammeln hatte man mittlerweile verlernt, sodass es bald knapp wurde mit der Nahrung auf den Inseln, und die Melanesier hungers sterben mussten. Schon blöd, diese Melanesier.

Melanie war eine sehr fleissige Studentin. Da sie berufsbegleitend Informatik studierte, konnte sie das im Studium Gelernte immer sofort im Betrieb anwenden. Zum Glück setzte die Hochschule voll auf Java, so wie man das in ihrem Betrieb auch tat.

Heute arbeitet Melanie am Datenbankzugriff. Doch irgend etwas gefällt ihr an dieser Methode nicht:

public static void insertCustomer(Customer customer) {
    CustomerDBAccessor dbAccessor = new CustomerDBAccessor();
    dbAccessor.insert(customer);
}

Hatte nicht der Professor neulich etwas vom dynamischen Nachladen von Klassen und dem Class Loader gesprochen? Der hatte doch irgend etwas mit forName gemacht. Etwa so?

public static void insertCustomer(Customer customer) {
    Class dbAccessorClass = Class.forName("CustomerDBAccessor");
    CustomerDBAccessor dbAccessor = dbAccessorClass.newInstance();
    dbAccessor.insert(customer);
}

Ja, das wirkt viel professioneller! So programmieren die Profis Java. Jetzt muss Melanie nur noch den ganzen bestehenden Code so anpassen, um die Anwendung auf ein neues Level zu bringen.

Nur doof, dass ihre ignoranten Mitarbeiter keinen Sinn für Qualität haben und nur blöde Fragen stellen, was denn jetzt besser sein soll als vorher. Die studieren halt auch nicht Informatik. Sollen sie mal die gleichen Vorlesungen besuchen wie Melanie, dann könnte man im Team auf Augenhöhe reden. Aber so…

Doch Melanie ist selbstsicher und gibt das jetzt einfach mal als Standard vor!

Fragen

  1. Gibt es Gemeinsamkeiten im Verhalten der Melanesier und von Melanie?
  2. Warum folgen Leute einem Cargo Cult?
  3. Wo begegnet man sonst noch einem Cargo Cult (Informatik, Alltag)?
  4. Wie erkennt man, ob man selber einem Cargo Cult folgt?
  5. Wie kann man eine Organisation vom Cargo Cult heilen?
Antworten aus dem Unterricht
  1. Gibt es Gemeinsamkeiten im Verhalten der Melanesier und von Melanie?
    • Beide ahmen etwas nach, was sie nicht verstehen.
    • Beide folgen einer offensichtlich erfolgreichen Autorität.
    • Ein gewohntes Verhaltensmuster wird durch ein neues, aber nicht funktionierendes ersetzt ‒ und stur durchgesetzt.
  2. Warum folgen Leute einem Cargo Cult?
    • Weil sie den Zusammenhang zwischen einer Ursache und (erwünschten) Wirkung nicht verstehen.
    • Es ist bequemer, einem Beispiel zu folgen als selber zu denken.
    • Das Neue wird positiver bewertet als das Alte.
    • Man möchte sich verbessern, etwas verändern ‒ oder einfach dazugehören.
    • Man erkennt einen positiven Effekt, den man selber nachahmen möchte.
  3. Wo begegnet man sonst noch einem Cargo Cult (Informatik, Alltag)?
    • Beim Einsatz von KI, Blockchain und anderer Technologietrends oder Hypes.
    • Beim Nachahmen anderer Lernender oder Arbeitskollegen.
    • Beim unkritischen Befolgen von Tutorials.
    • Bei Glücksspielen wie Lotto, weil man nur die Gewinner sieht.
    • Beim Sport durch das Übernehmen irrelevanter Handlungsmuster.
  4. Wie erkennt man, ob man selber einem Cargo Cult folgt?
    • Kann man den Vorteil der neuen Lösung ‒ anderen und sich selber ‒ erklären ?
    • Kann die Verbesserung anhand objektiver und messbarer Kriterien nachgewiesen werden?
    • Reagiert man emotional auf kritische Rückfragen?
    • Welche Rückmeldungen erhält man von anderen?
  5. Wie kann man eine Organisation vom Cargo Cult heilen?
    • Indem man dafür sorgt, dass Entscheidungen breit abgestützt und nicht durch einen einzelnen “Trendsetter” vorgegeben werden.
    • Indem man externe Experten dazuholt, gegen die niemand der Belegschaft voreingenommen ist.
    • Indem man eine transparente, offene Firmen-, Diskussions- und Fehlerkultur fördert.
    • Indem man sich untereinander austauscht, nach einem Konsens sucht und gemeinsam (gegen solche Kulte) auftritt.
    • Indem man mit Fakten argumentiert (Daten zu objektiven/messbaren Kriterien sammeln).